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Theatergerechtes Übersetzen
 
Es gibt Übersetzungen, die der Transitorik widerstehen. Dort, wo die Sprache eines Autors als Übersetzer überlebt wie seine eigene. Ein klassisches Beispiel ist Schillers Übertragung von Racines Phèdre. Sie hat die gleiche Sprachenergie und Form wie ein Schiller'sches Original. Man könnte auch sagen, sie ist eine gültige deutsche Metapher von Racine. Schiller sucht die Annäherung an Racine über seine eigene dramatische Sprache. Zum andern wirkt der Racine'sche Text inspiratorisch auf sein Deutsch. Aus diesem wetteifernden Wechselspiel entsteht ein deutscher Racine. Und nicht zuletzt deshalb, weil Schiller verzichtet, den französischen gereimten Alexandriner nachzuahmen. Er wählt den reimlosen Blankvers, ein Mass, das dem deutschen Sprachrhythmus entspricht: seinen eigenen Dramenvers. Sodann schreibt er die Übersetzung für eine konkrete Bühne, die von Weimar. Das bedeutet wiederum, sie ist ein Element in einem ästhetischen Programm, dem klassischen, und setzt es fort. Seine Übersetzung ist ein Produkt aus der Theaterpraxis und für sie bestimmt. Ein Werk zum Spielen, nicht bloss zum Lesen. Die Erfahrung einer permanenten Theaterarbeit mit den eigenen Stücken schlägt sich auch in einer Übersetzung nieder. Ein solcher Text ist denn auch theatergerecht oder, wie die Schauspieler sagen, spielbar. Und das meint nicht allein, dass die Sätze sprechbar sind. Das sogenannt Unspielbare verrät zumeist Unstimmigkeiten, die tiefer im Text stecken. Der dramatische Satz hat einen informatorischen Gestus. Er ist Mitteilung als Ausdruck, Auskunft als Anruf, Stimmung, Zustand, psychische Atmosphäre einer Figur. Er lässt sich nicht kommentieren wie etwa ein Dialog im Roman. Er kommt aus dem Mund des Schauspielers. Sein Gestus evoziert mögliche Farben des Ausdrucks. Seine rhythmischen Kadenzen beeinflussen den Sinn. Theatersprache ist von Natur Invokation und Evokation. Sie hat in allem etwas schlicht Beschwörendes. Mit jedem Wort verrät sich eine Figur: sich selbst, ihre äussere und innere Lage, ihr Herkommen, ihre Geschichte. Ein „Ach!" auf der Bühne kann eine ganze Biographie aussprechen. Aus solchen Gründen kann der Theaterübersetzer nicht bloss nach-übersetzen, was literarisch im Original steht. Er muss die Figuren von innen erfahren und erforschen. Er muss wie der Schauspieler ihre Geschichte nacherleben, bevor er sie reden lässt. Er muss wie der Regisseur sich im Kosmos eines Stückes auskennen, seinen dramaturgischen Aufbau und Kalkül begreifen, Konstellationen und Zusammenhänge überschauen. Mit einem Wort, er bedarf der dramatischen Intuition. Sie ist das erste Instrument, mit dem er übersetzt. Das visuelle Begreifen einer Figur bestimmt am Ende ihre Sprache von Augenblick zu Augenblick. Er hat der intuitiven Logik ihres Handelns, Fühlens und Denkens zu gehorchen. Er soll nicht vorschnelle Urteile und Vorstellungen an sie herantragen. In Geduld soll er sie erkennen wollen. Wer übersetzt, sollte auch über etwas Demut verfügen und sich nicht anmassen, seinem Autor eigene vorfabrizierte Sprachmasken aufzusetzen. Vielmehr soll er neue, seinem Autor entsprechende Sprachmasken schaffen. Zusammenfassung des Artikels von Herbert Meier: Theaterübersetzen. Lorca zum Beispiel. Übersetzung und Rezeption García Lorcas im deutschen Sprachraum. Hrsg. Ernst Rudin. Kassel: Reichenberger, 1997. (S.101-108)
 
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